Klagenfurt, Anfang Juli 2017

Heute Morgen hatte ich eine sehr berührende Begegnung.

Kurz, intensiv – sie ging mir unter die Haut.

Wie jeden Morgen fahre ich meine Tochter mit dem Auto zur Schule.

Heute halte ich beim Zebrastreifen, weil ein Junge ganz schnell auf den Übergang zueilt. Er wirkt ein bisschen abwesend, unkonzentriert.

Irgendetwas sagt mir, dass Vorsicht geboten ist. Ich bremse ab und bleibe stehen.

Als er den ersten Schritt auf den Fußgängerübergang setzt, bricht es aus ihm heraus und ihm kommen die Tränen. Verzweifelte Tränen, echter Kummer bahnt sich einen Weg heraus. Wenn Weinen so gepresst wird. Mit ein bisschen Verzweiflung und Wut gemischt. Zornig, dass das Weinen da ist.

Er geht über die Straße.

Als er am Gehweg angekommen ist, lasse ich das Fenster herunter und frage: „Brauchst du Hilfe?“

Er sieht kurz auf, schaut mich an und er stößt hervor:

„Ich komme zu spät zur Schule!!!“

Er hat keine Zeit für unsere Begegnung, dreht sich wieder in seine Gehrichtung  und hastet tränenüberströmt weiter, um einem Ziel gerecht zu werden, das ihm irgendjemand vorgegeben hat.

Ich fahre langsam weiter.

 

Eine Szene ploppt in meinem geistigen Auge auf. Früher! In unserem alten Vorzimmer. Ich habe Druck. Großen Druck in mir, dass ich meiner Mutterrolle gerecht werde. Druck, dass meine Tochter zu spät in die Schule kommen könnte. Es ist mir wichtig zu entsprechen und vor der so genauen und korrekten Lehrerin meiner Tochter zu bestehen.

Also dränge ich sie dazu, schneller zu machen, doch endlich weiterzutun und das Haus rechtzeitig zu verlassen.

Manchmal sind das keine schönen Momente. Denn sie wehrt sich. Sie möchte ihr Tempo gehen. Sie versteht noch nicht, warum Zeit und Pünktlichkeit so wichtig sind. Ist es ja auch das erste Mal in ihrem Leben, wo ihr diese Dinge begegnen. Und dann auch gleich noch so heftig mit meinem eigenen Druck ausgestattet.

 

Ich spüre es am ganzen Körper, dass dieser Junge heute eine ähnliche Begegnung mit seiner Mutter hatte.

Ich sehe ihn in seiner ganzen Verzweiflung!

Und wisst ihr WORÜBER er verzweifelt ist?

Ich spüre es ganz genau.

Er ist verzweifelt darüber, dass Pünktlichkeit wichtiger ist als er als Mensch. Dass seine Mutter ihn und sein Tempo nicht gesehen hat. Dass das von irgendjemandem vorgegebene Muster Zeit, ihn und sein Herz an die 2. Stelle verwiesen hat.

Das ist die Wut und die Verzweiflung, die ihn weinen lässt. Und während ich diese Geschichte schreibe, weine ich mit ihm. Seine und meine Tränen gemeinsam.

Im Auto sage ich zu meiner Tochter: „Annabell, das hat mich gerade sehr berührt. Spürst du, wie verzweifelt der Junge ist? Sollen wir ihn mit dem Auto in seine Schule bringen?“

Und sie sagt: “Mami, das ist nicht deine Sache. Das ist seine Sache.” Und natürlich hat sie Recht – denn auch er bekommt einfach die Aufgaben im Leben, die ihn wachsen lassen.

Und dann sagt sie: “Du musst dein Herz ein bisschen stärken. Denn du kannst nicht allen helfen. Und außerdem komm dann ja ich zu spät zur Schule. Auch, wenn mich das nicht so stört wie diesen Jungen.”

Und ich finde es toll, dass sie ihr Bedürfnis, pünktlich zu kommen, äußert.

Aber in einer Sache irrt sie sich:
Ich nehme mich der Sache an. Auf meine Art und Weise. Ich schreibe euch diese Geschichte. Denn das ist die Ausdrucksform, die ich wähle, um Dinge zu verändern.

Und vielleicht erreiche ich den einen oder die andere,
die darüber nachzudenken beginnt,
ob es wirklich notwendig ist,
Sachen (Aufräumen, Pünktlichkeit,…)
über die Menschen zu stellen.

Oder, ob wir nicht ganz genau JETZT damit beginnen sollten, uns selbst und unsere Mitmenschen wieder wichtiger zu nehmen, als diese hinter antrainierte Sachzwänge einzureihen.

Dieser Junge hat mir heute gezeigt, was mit unserer Gesellschaft geschieht, wenn wir so weitermachen. Wie viel Wut wir säen, wenn wir nicht endlich beginnen, den Menschen wichtiger zu nehmen als die Sache.

Und wir haben es in der Hand, unsere Welt in den ganz kleinen Dingen zu ändern. Jeder für sich. Bei sich zu Hause. Ich mache weiter damit, denn das ist für mich eine unglaublich wichtige Erkenntnis, die sich mir schon vor 2,5 Jahren eröffnet hat.

Heute möchte ich sie weitergeben und dich bitten – wenn sie für dich auch stimmig ist – anzufangen, danach zu handeln.

STELLE IMMER DEN MENSCHEN VOR DIE SACHE!

Es gelingt nicht immer, aber es zu erkennen und einfach mal damit zu beginnen hinzusehen: das macht einen Unterschied in unserer Welt!

Vielleicht magst auch du einen Unterschied in deiner Welt machen! Denn wenn du in deiner Welt beginnst, dann machst du einen ganz wichtigen Unterschied!

 

Herzlichst, Deine
Silvia

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Bild: weinender Junge #94499880, Urheber: Sabine Hürdler, © fotolia